
Sehr herzlich heiße ich Sie alle zur diesjährigen Feierstunde zum Volkstrauertag 2025 willkommen.
Anlässlich der Rückbesinnung auf „80 Jahre Kriegsende“, so das vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gewählte Motto, erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 8.Mai an den Jahrestag des Kriegsendes in Europa im Jahre 1945, indem er hinzufügte: „Wir sind alle Kinder des 8. Mai.“
Was könnte der Bundespräsident damit gemeint haben?
Lebende Zeitzeugen befinden sich kaum noch unter uns, für die meisten setzt eine bewusste Erinnerung erst später ein oder die Älteren können sich an die schlimme Zeit, die sie als Kinder erleben mussten, nur schemenhaft erinnern oder haben sie gänzlich aus ihrem Gedächtnis getilgt.
Und doch dürfen sich die Alten nicht scheuen, den zwei bis drei nachfolgenden Generationen seit dem Ende des 2. Weltkrieges möglichst plastisch vor Augen zu führen, wie stark der vom Hitlerregime entfesselte Krieg – und besonders die Not und das grenzenlose Leid – ihr eigenes Leben und das so vieler Menschen überall in Europa in ein vorher ungekanntes Chaos gestürzt hat.
Mindestens 55 Millionen Kriegstote sowie die fast völlige Auslöschung des europäischen Judentums waren die Bilanz eines am Ende selbstzerstörerischen Größenwahns, der für immer den Namen und das Ansehen Deutschlands befleckt hat.
Nur unbelehrbare Ignoranten können das als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte bagatellisieren!
Sie, liebe Anwesende, wissen am besten, in welchem Maße die Ereignisse bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches überall Einfluss auf Schicksale gehabt haben und wie die damalige Bevölkerung sie meistern musste.
Vieles scheint aber aus heutiger Sicht nur noch eine Episode gewesen zu sein: die Besatzungszeit, der Kalte Krieg, die deutsche Teilung.
Wir im Westen hatten erkennbar das bessere Los gezogen als die Menschen innerhalb des sowjetischen Machtbereichs, weil wir im Rahmen der Westintegration der alten Bundesrepublik schon bald die unmittelbaren materiellen Folgen des Krieges überwinden konnten.
Auf die USA als Schutzmacht schien dauerhaft Verlass zu sein, so dass wir uns ganz auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau konzentrieren konnten.
Und als vor nunmehr 35 Jahren im Zuge der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre das sowjetische Imperium implodierte und Deutschland seine staatliche Einheit wieder erlangte, schien die unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts endgültig ihren Abschluss gefunden zu haben.
Besonders die Überwindung jahrhundertelangen nationalstaatlichen Ringens in Europa fand in der Erweiterung der Europäischen Union auf zehn ehemals ost-mitteleuropäische Staaten ihren vorläufigen Höhepunkt.
Die Bunderepublik Deutschland als größtes und wirtschaftsstärkstes Land in der Mitte des Kontinents und nach Erlangen vollständiger außen- und sicherheitspolitischer Souveränität besitzt seitdem eine Führungsrolle, auf die sie sich immer noch und jetzt zunehmend einstellen muss.
Erst jetzt sind wir in der Realität des 21. Jahrhunderts wirklich angekommen, und das bedeutet, von z. T. lang gehegtem Sicherheitsdenken Abschied zu nehmen.
Im Zuge der Globalisierung, des spürbaren Klimawandels und einer Vielzahl einander bedingender nationaler, kultureller, ethnischer, wirtschaftlicher und sozialer Konflikte weltweit sind wir mehr oder weniger direkt nicht selten Betroffene von Krisen in anderen Regionen. Dazu tragen vor allem der unaufhaltsame technologische Fortschritt, die Digitalisierung, die zunehmende ökonomische Abhängigkeit, die knapper werdenden natürlichen Ressourcen und eine ungehinderte Aufrüstung bei.
Gewaltanwendung und das Recht des Stärkeren treten zunehmend an die Stelle von Vertragstreue und friedlicher Kooperation.
Vieles erinnert mich an den Wettlauf der Großmächte vor dem 1. Weltkrieg.
An der Spitze solcher Mächte stehen oft Regime, die die pluralistisch-demokratische Gesellschafts- und Rechtsordnung als Bedrohung ihrer eigenen Herrschaft fürchten und deshalb gegen jegliche Opposition vorgehen.
Ein erstes Opfer ist die Unterdrückung jeglicher Meinungs- und Informationsfreiheit durch staatlich kontrollierte oder manipulierte Medien.
Genauso wie im Deutschland Adolf Hitlers ab 1933.
Heute wetteifern Russland, China und seit Trump die USA um eine globale Führungsrolle.
Dass wir es aufgrund von aktuell fast hundert Brandherden mit einer ernsthaften Gefährdung des Weltfriedens zu tun haben, spüren wir hautnah spätestens, seitdem ein Land in Europa von seinem übermächtigen Nachbarn ausgelöscht zu werden droht.
Nicht nur der Überlebenskampf der Ukraine fordert die Staaten, in denen die Demokratie, also die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, der Gewaltenteilung und Sozialstaatlichkeit das Handeln der Politik bestimmen, heraus, sondern das verstärkte Anschwellen populistischer, autoritärer, ja extremistischer Strömungen in vielen europäischen Ländern, so auch bei uns.
Gründe sind meist eine anwachsende Unzufriedenheit über politisch-administrativen Stillstand, lähmende Bürokratie oder durchaus berechtigte Ängste um den Bestand des bisher sicher geglaubten Wohlstandsniveaus.
Schnell finden sich für vereinfachende Propaganda von Demagogen vermeintlich Schuldige oder leicht zu benennende Sündenböcke.
Wer aber so denkt, hat nicht verstanden, dass Demokratie ein stetiger Prozess um eine den jeweiligen Rahmenbedingungen angemessene gerechte Ordnung ist, die auf umfassende Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger, nicht zuletzt auch von Migranten, angewiesen ist.
Wenn wir also der Anlass zur Sorge um den Fortbestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gebenden Entwicklung nicht tatenlos zusehen wollen, müssen wir als Demokraten aller gesellschaftlichen Gruppen und Vereinigungen verstärkt aufstehen und „Gesicht zeigen“, wie das vor wenigen Wochen erfreulich viele Biebertalerinnen und Biebertaler anlässlich eines sogenannten „Bürgerdialoges“ der AfD getan haben.
Eine im Wortsinn wehrhafte Demokratie, wie wir sie dank der Vorgaben der westlichen Alliierten bei der Gründung der Bundesrepublik in Gestalt des Grundgesetzes 1948/9 quasi verordnet bekamen, auf die wir jedoch stolz sein können, weil es in der deutschen Geschichte nichts Besseres gegeben hat, richtet sich an uns alle.
Insofern reichen Lippenbekenntnisse allein nicht aus, sondern Demokratie muss im Alltag und gegenüber jedermann vor-gelebt werden.
Wer unzufrieden ist, kann und sollte sich bei der Lösung anstehender Probleme deshalb selbst engagieren, indem er sich z.B. bei anstehenden Wahlen als Kandidat zur Verfügung stellt.
Pauschale, oft fremdenfeindliche Propaganda zumal über mediale Hassportale sind keine tauglichen Instrumente, sie spalten lediglich die Gesellschaft und schaffen nur Unfrieden.
Folgen wir daher dem Appell des Bundespräsidenten, wenn er am 8.Mai sagte: „Geben wir nicht leichtfertig preis, was uns stark gemacht hat! Flüchten wir nicht aus unserer Geschichte. Werfen wir die Lehren gerade dann nicht über Bord, wenn sie uns etwas abverlangen. Das wäre feige und falsch zugleich!“
Gottfried Tschöp

